Der
Tag des Springers
Einst
war ich ein einsamer Wanderer, hatte lange steinige Wege hinter mir und
erschöpft erreichte ich ein karges Land. Dort angekommen fand ich einen Brunnen
und hoffte auf Wasser, doch als ich mich
über den Brunnenrand beugte fiel ich hinüber und sein Schlund
verschluckte mich für lange Zeit.
Eine
Ewigkeit saß ich in dieser Dunkelheit, kalt und erbarmungslos hielt mich die
Verzweiflung gefangen beim Anblick der feuchten und glatten Wände um mich. Weit
oben erahnte ich das Licht, sah Tag und Nacht vorüber ziehen, hörte Menschen
lachen und reden über ihr Leben, sah sie tief in den Brunnen hinab schauen in
ihren prunkvollen Gewändern und lachen über mich, weil ich dort unten saß und
nicht fähig war, die Wände hinauf zu klettern und mit ihnen ihr Leben zu leben.
Meine
Hände schmerzten und das Herz brannte in der Brust, die Tränen waren längst
versiegt, so wie das Wasser in diesem Verließ. Ich hörte den Spott der Leute,
doch am schlimmsten war das Mitleid und jene Stimmen die mir nahe legten, die
Augen zu schließen und mein Schicksal zu akzeptieren. Der Glaube an mich selbst
war bis auf einen kaum sichtbaren Funken erloschen, niemals würde ich dort hin
gelangen, wo all die anderen standen oder gar deren Gewänder tragen.
Meine
Gedanken teilte ich mit den Schattenwesen, die dort unten lebten, und hin und
wieder mitten in der Nacht, wenn der Vollmond am Himmel leuchtete und meine
Brunnenwände silbern glänzen lies, sang eine Nachtigal ihr Lied. Sie setzte
sich auf den Rand des Brunnens und schmetterte ihren lieblichen Gesang so
anmutig und leidenschaftlich gegen den kühlen Stein, dass der Funke in meinem
Herzen wieder zu lodern begann.
Eines
Nachts, als wieder die Einsamkeit an meiner Kehle hing und mir die Luft zum
Atmen nahm, begann die Nachtigal ihr Lied so laut und unwiderstehlich zu
singen, dass sie die Einsamkeit zum Schmelzen brachte und diese ihre grausige
Hand von meinem Halse nahm.
Ich
rief nach dem Vogel und flehte, er möge mich doch retten aus diesem Schacht und
da verstummte sein Lied.
Alles
war still, so still, dass ich nicht einmal mehr meinen eigenen Atem hören
konnte. Der kleine Vogel erhob sich und schwebte wie von Zauberhand getragen zu
mir in die dunkle Tiefe hinab und setzte sich auf mein Knie. Lange und prüfend
betrachtete mich das schlanke Tier und hüpfte auf mein anderes Knie, dann auf
meine Schulter und begann leise in mein Ohr zu singen, ganz leise, so als kämen
die Töne aus einer weit entfernten Ewigkeit hier her zu mir und nur zu mir. Aus
dem seltsam anmutenden Gesang formten sich Worte, und aus ihnen verständliche
Sätze.
„Warum
schlägst du gegen diese Wände? Siehst du nicht, wie stark sie sind? Hör auf zu
weinen und zu jammern, dort oben kommst du nicht hin, das ist nicht dein Weg.
Die Welt dort oben ist nicht die Deine. Sieh nach unten, hier vor deine Füße,
schau!“ Und ich richtete meinen Blick
auf den Boden auf dem ich schon so lange saß, doch niemals war mir diese Türe
aufgefallen. Dies sollte mein Weg sein? Ich griff nach dem schweren Eisenknauf
und öffnete sie langsam. Ich brauchte sie nicht nach oben zu ziehen, denn in
dem Augenblick, als sich die Türe zu öffnen begann, kippte meine Welt und ich
stand aufrecht.
Vor
mir erstrahlte ein eigenartig flimmerndes Licht, und meine Hand warf türkise
Schatten. Die Nachtigall entschwand durch die Türe und rief zu mir: „Spring!“
und war verschwunden.
Mein
Gott, wohin sollte ich springen? Alles war verschwommen, wie in einem Nebel, wo
würde ich landen, doch hinter mir stand wieder die Einsamkeit und drückte ihre
Hand gegen die offene Türe und dies war der Moment in dem ich die Entscheidung
treffen musste. „Spring oder stirb!“ Hörte ich von weit her die Nachtigall noch
einmal rufen und ich stieß mich ab vom feuchten Brunnenboden und zu meiner
Überraschung setzte ich im gleichen Augenblick an einer anderen Stelle wieder
auf.
Doch
wo war ich nun? Die kalten nassen Brunnenwände waren verschwunden, um mich
zeigte sich immer deutlicher ein gewaltiger großer Raum. In ihm war es weder
hell noch war es dunkel und mir schien, ich sei unsichtbar. Wie ein Schatten
bewegte ich mich von einer Stelle zur anderen. Allein die Kraft meiner Gedanken
versetzte mich an den Ort meines Verlangens. Doch mein Verlangen war beschränkt
auf das Vorhandene, ich sah und zielte und war dort. Ich sprang und auf meinen
Sprüngen durchquerte ich unendliche Welten, überwand alle Hindernisse, die sich
als solche vor mir preisgaben, mir Angst machen wollten, und lachend sprang ich
über sie hinweg.
Mit
meinen Sprüngen veränderte sich die Form des Raumes und die Welt war gefüllt
mit Nebel und Farben, die sich zu immer neuen Gestalten formierten, festigten
und sich wieder auflösten um sich mir in den Weg zu stellen, mich heraus zu
fordern und ich suchte nach neuen Plätzen und sprang.
Einer
meiner Sprünge war so hoch und weit, dass ich den Boden nicht mehr erkennen
konnte und flog einem fremdartigen Lichtstrahl entgegen. Dort, wo das Licht
tanzte, lag mein Ziel.
Dies
war wohl der bisher längste und wagemutigste Sprung, den ich in meinem Leben je
vollbrachte, und es hatte sich gelohnt. Die Plattform auf der ich landete bot
mir eine gewaltige Aussicht über diesen unendlich großen Raum, dass es mir die
Sprache verschlug, Ich fand plötzlich keine Worte mehr um zu sagen, was ich
sah.
Die
Formen und Farben schwebten um mich herum als boten sie sich mir an und ich hob
meine Hand und sandte meinen Willen aus und schuf eine Welt, durchfuhr sie und
löste sie wieder auf, ich zog Linien durch die Unendlichkeit und tanzte auf
ihnen wie auf einem Seil. Unter mir formten sich Türme aus Farben umringt von
rot glühenden Nebeln. Ein Gedanke entschwand meinem Inneren und brachte den
Himmel zum Bersten. Es regnete Diamanten umhüllt von magischen Klängen um sich
in einem Meer aus Leidenschaft zu sammeln. Und nun begriff ich, dass dies meine
Welt war in der ich leben sollte, dies war meine Heimat.
Kaum
hatte ich mich mit meiner schöpferischen Kraft vertraut gemacht, hörte ich von
weit her eine Stimme zu mir rufen: „Hallo, ist hier jemand, bist du es? Ich
kenne dich!“ Und aus der Stimme formte sich alsbald eine wunderbare Gestalt,
tanzend auf einem leuchtenden Ball schwebte sie mir entgegen. Überglücklich
schlug mein Herz über diese erste Begegnung mit diesem altbekannten Geist und
warf ihm eine Linie zu und noch ein paar in allen Farben und wir formten daraus
einen See und füllten ihn mit Liebe und Freude. Und wir waren nicht die
Einzigen, immer mehr kamen aus allen Reichen dieser Welt und gesellten sich zu
uns. Wir sprangen, tanzten und lachten miteinander und schufen alle Dinge neu,
so, dass sie zu uns passten. Wir schufen Bilder neuer Möglichkeiten, um auf
ihnen zu landen, in aller Stille, ohne ein Wort.
Nach
einer wunderbaren Zeit des wieder Findens und Erkennens trennten sich unsere
Wege wieder, doch wir malten uns Zeichen auf die Stirn um uns nicht zu
vergessen.
Seit
diesen Tagen springe ich durch alle Ereignisse, über alle Dinge hinweg, in
unvorstellbarer Geschwindigkeit. Ich springe dir aus dem Wege, wenn du meinen
Raum bedrückst, springe über dich hinweg, wenn du denkst, über mir zu stehen,
ich springe dir vor die Füße, wenn du glaubst mich übergehen zu müssen doch ich
springe sofort an deine Seite, um dir im silbernen Schein des Mondes ein Lied
zu singen, wenn dein Herz verbrennt, im Glauben an den Brunnenschacht.